ãWir
leben wie die KakerlakenÒ
Die Finanzkrise trifft Russland hart Ð
vor allem aber seine Gastarbeiter
Die weltweite Finanzkrise liess in Russland die boomende
Bauindustrie kollabieren. Am hŠrtesten trifft es die vielen Millionen
Gastarbeiter und ihre Familien zu Hause. Die Zahl der hungrigen Tagelšhner an
Moskaus Ausfallstrassen steigt und mit ihr die Sorge um den sozialen Frieden.
Eine Reportage.
Die Tagelšhner sind in Russland auch wŠhrend der Boomjahre nicht ausgestorben. Aber jetzt werden sie wieder mehr - die hungrigen Gestalten, die an Moskaus breiten Ausfallstrassen auf den ãArbeiterstrichÒ gehen und ihre Handlangerdienste fŸr bescheidenes Geld anbieten.
ãSo viele waren es frŸher nichtÒ, sagt Aslanbek, der nicht mit seinem
richtigen Namen zitiert werden mšchte. Seit acht Tagen wartet der 52-jŠhrige
Usbeke vor einem der gršssten BaumŠrkte Moskaus Ð dem ãKaschirskij DworÒ Ð
vergeblich auf Arbeit. Mit ihm trotzen hier Dutzende Gastarbeiter in dŸnnen
Jacken und schlecht besohlten Kunstlederschuhen dem kŸhlen Novemberwind. Die
meisten stammen aus ehemaligen Sowjetrepubliken: etwa aus Tadschikistan, Usbekistan oder Kirgistan, aber auch
aus Weissrussland oder der Ukraine.
Wer von der Metrostation ãNagatinskajaÒ den breiten Gehweg runter zum
Baumarkt lŠuft, trifft frŸh auf erste Anbieter. Steif und oft stumm stehen sie
der potentiellen Kundschaft Spalier, fast wie die entlaubten BŠume entlang der
staubigen Schosse. Einige tragen kleine Schilder auf der Brust, auf denen ihre
Dienste aufgelistet sind Ð vom Plattenlegen bis zur Totalrenovierung. Direkt vor dem Markt ist mehr Bewegung.
Wer Baumaterial eingekauft hat, kann hier auch gleich einen billigen
Handwerker mitbesorgen: Jedes Mal, wenn ein potentieller
Arbeitgeber auftaucht, scharen sich die Tagelšhner in sekundenschnelle um ihn Ð
wie ein Bienenschwarm um die Kšnigin.
Doch nun in der Krise gibt es immer mehr Arbeiter und immer weniger
Arbeit Ð die Lšhne fallen: Noch im Sommer habe er umgerechnet rund 100 Dollar
pro Tag verlangen kšnnen, nun sei es noch die HŠlfte, erzŠhlt ein junger
Tadschike. Auch Aslanbek weiss nicht, wie er in diesem Monat allein die 30000
Rubel Ð knapp 1000 Euro Ð fŸr die Zweizimmerwohnung zusammenkriegen soll, die
er mit Frau, Sohn, Tochter, Schwiegersohn und Enkelkind bewohnt. Selbst in
Zeiten der Hochkonjunktur habe er jeden Tag auf die Strasse gemusst, damit es
reicht - seit fŸnf Jahren, ohne ein einziges Wochenende. ãWir leben hier wie
die KakerlakenÒ, sagt Aslanbek, der im Gegensatz zu den jungen Gastarbeitern
noch ein gutes Russisch spricht und mit seiner randlosen Brille und dem
gepflegten Spitzbart einem BildungsbŸrger gleichkommt.
Auch der 28-jŠhrige Samatbek spŸrt die Krise. Als Kirgise erhielt er
relativ leicht die russische StaatsbŸrgerschaft und kann nun auf dem Baumarkt
einen eigenen Verkaufsstand fŸr BodenbelŠge betreiben. Doch jetzt ist sein
Umsatz um die HŠlfte gesunken. Und auch seinen Verwandten und Freunden, die auf
Baustellen arbeiten, geht es nicht besser: ãDie Lšhne werden nicht bezahltÒ,
sagt Samatbek. Aus Mangel an Alternativen wŸrden die meisten vorerst trotzdem
weiter arbeiten, andere jedoch wollten nun von Tag zu Tag den Lohn direkt auf
die Hand haben.
Der Bau- und Immobiliensektor galt in den vergangenen Boomjahren als
ãLokomotive der russischen WirtschaftÒ. Jedes Jahr stiegen die Investitionen in
diesen Bereich um rund 30 Prozent. Jedoch ohne eine entsprechende Nachfrage:
Weniger als zehn Prozent der russischen Familien kšnnen es sich leisten, eine
Wohnung aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Trotzdem stiegen die Immobilienpreise unablŠssig, die
Spekulationsblase wuchs und wuchs,
angeheizt durch die ins Land geschwemmten Petrodollars. Um die Nachfrage zu stimulieren, versuchten
die Banken den BŸrgern einen teuren Wohnungskauf dennoch mit Krediten
schmackhaft zu machen, die sie meist im Westen refinanzierten.
Seit Juli sank der Erdšlpreis jedoch von 140 auf unter 70 Dollar pro
Barrel und mit ihm implodierte auch der russische Immobiliensektor. Selbst
grosse Firmen wie die Mirax-Group, die in Moskau mit dem ãFederation TowerÒ
zurzeit das hšchste GebŠude Europas errichtet, hat sŠmtliche Projekte, die sich noch nicht im Bau befinden,
auf Eis gelegt. ãViele meiner Konkurrenten, die sich vor allem Ÿber Kredite
finanziert haben, sind nicht mehr auf dem MarktÒ, erzŠhlt ein Schweizer Bauunternehmer in Moskau.
Experten wie etwa der …konom Michail Delyagin befŸrchten nun, dass viele
arbeitslose Gastarbeiter in die KriminalitŠt abdriften kšnnten. Allein in
Moskau sind 1,6 Millionen Fremdarbeiter legal registriert, die Anzahl illegaler
Immigranten in der russischen Hauptstadt dŸrfte jedoch mehr als doppelt so hoch
sein. Eine RŸckkehr in die armen HeimatlŠnder bietet ihnen wenig Perspektiven:
In Tadschikistan etwa entsprechen
die †berweisungen der Gastarbeiter an ihre Familien 36 Prozent des
Bruttoinlandprodukts.
Die Wirtschaftskrise kšnnte daher den sozialen Frieden in Russland, wo
seit Anfang Jahr bei rassistischen †bergriffen mindestens 80 Immigranten von
Ultranationalisten ermordet wurden, auf eine harte Probe stellen. Denn auch in
Branchen, in denen mehrheitlich Russen arbeiten, werden bereits krŠftig
ArbeitsplŠtze gekŸrzt: bei der Investment-Gruppe ãRenaissance CapitalÒ zum
Beispiel um 30 Prozent. Am vergangenen Wochenende organisierte die kremltreue
Jugendorganisation ãMolodaja GwardijaÒ in mehreren StŠdten Protestkundgebungen
unter der Parole ãUnser Geld Ð unseren LeutenÒ. Aslanbek und seinesgleichen
droht ein frostiger Winter Ð vor allem in sozialer Hinsicht.