ãWir leben wie die KakerlakenÒ

Die Finanzkrise trifft Russland hart Ð vor allem aber seine Gastarbeiter

 

Die weltweite Finanzkrise liess in Russland die boomende Bauindustrie kollabieren. Am hŠrtesten trifft es die vielen Millionen Gastarbeiter und ihre Familien zu Hause. Die Zahl der hungrigen Tagelšhner an Moskaus Ausfallstrassen steigt und mit ihr die Sorge um den sozialen Frieden. Eine Reportage.

 

Christian Weisflog

 

Die Tagelšhner sind in Russland auch wŠhrend der Boomjahre nicht ausgestorben. Aber jetzt werden sie wieder mehr - die hungrigen Gestalten, die an Moskaus breiten Ausfallstrassen auf den ãArbeiterstrichÒ gehen und ihre Handlangerdienste fŸr bescheidenes Geld anbieten.

 

ãSo viele waren es frŸher nichtÒ, sagt Aslanbek, der nicht mit seinem richtigen Namen zitiert werden mšchte. Seit acht Tagen wartet der 52-jŠhrige Usbeke vor einem der gršssten BaumŠrkte Moskaus Ð dem ãKaschirskij DworÒ Ð vergeblich auf Arbeit. Mit ihm trotzen hier Dutzende Gastarbeiter in dŸnnen Jacken und schlecht besohlten Kunstlederschuhen dem kŸhlen Novemberwind. Die meisten stammen aus ehemaligen Sowjetrepubliken:  etwa aus Tadschikistan, Usbekistan oder Kirgistan, aber auch aus Weissrussland oder der Ukraine.

 

Weniger Arbeit und fallende Lšhne

 

Wer von der Metrostation ãNagatinskajaÒ den breiten Gehweg runter zum Baumarkt lŠuft, trifft frŸh auf erste Anbieter. Steif und oft stumm stehen sie der potentiellen Kundschaft Spalier, fast wie die entlaubten BŠume entlang der staubigen Schosse. Einige tragen kleine Schilder auf der Brust, auf denen ihre Dienste aufgelistet sind Ð vom Plattenlegen bis zur Totalrenovierung.  Direkt vor dem Markt ist mehr Bewegung. Wer Baumaterial eingekauft hat, kann hier auch gleich einen billigen Handwerker  mitbesorgen:  Jedes Mal, wenn ein potentieller Arbeitgeber auftaucht, scharen sich die Tagelšhner in sekundenschnelle um ihn Ð wie ein Bienenschwarm um die Kšnigin.

 

Doch nun in der Krise gibt es immer mehr Arbeiter und immer weniger Arbeit Ð die Lšhne fallen: Noch im Sommer habe er umgerechnet rund 100 Dollar pro Tag verlangen kšnnen, nun sei es noch die HŠlfte, erzŠhlt ein junger Tadschike. Auch Aslanbek weiss nicht, wie er in diesem Monat allein die 30000 Rubel Ð knapp 1000 Euro Ð fŸr die Zweizimmerwohnung zusammenkriegen soll, die er mit Frau, Sohn, Tochter, Schwiegersohn und Enkelkind bewohnt. Selbst in Zeiten der Hochkonjunktur habe er jeden Tag auf die Strasse gemusst, damit es reicht - seit fŸnf Jahren, ohne ein einziges Wochenende. ãWir leben hier wie die KakerlakenÒ, sagt Aslanbek, der im Gegensatz zu den jungen Gastarbeitern noch ein gutes Russisch spricht und mit seiner randlosen Brille und dem gepflegten Spitzbart einem BildungsbŸrger gleichkommt.

 

Ende des Baubooms

 

Auch der 28-jŠhrige Samatbek spŸrt die Krise. Als Kirgise erhielt er relativ leicht die russische StaatsbŸrgerschaft und kann nun auf dem Baumarkt einen eigenen Verkaufsstand fŸr BodenbelŠge betreiben. Doch jetzt ist sein Umsatz um die HŠlfte gesunken. Und auch seinen Verwandten und Freunden, die auf Baustellen arbeiten, geht es nicht besser: ãDie Lšhne werden nicht bezahltÒ, sagt Samatbek. Aus Mangel an Alternativen wŸrden die meisten vorerst trotzdem weiter arbeiten, andere jedoch wollten nun von Tag zu Tag den Lohn direkt auf die Hand haben.

 

Der Bau- und Immobiliensektor galt in den vergangenen Boomjahren als ãLokomotive der russischen WirtschaftÒ. Jedes Jahr stiegen die Investitionen in diesen Bereich um rund 30 Prozent. Jedoch ohne eine entsprechende Nachfrage: Weniger als zehn Prozent der russischen Familien kšnnen es sich leisten, eine Wohnung aus eigenen Mitteln zu finanzieren. Trotzdem  stiegen die Immobilienpreise unablŠssig, die Spekulationsblase wuchs und wuchs,  angeheizt durch die ins Land geschwemmten  Petrodollars. Um die Nachfrage zu stimulieren, versuchten die Banken den BŸrgern einen teuren Wohnungskauf dennoch mit Krediten schmackhaft zu machen, die sie meist im Westen refinanzierten.

 

Seit Juli sank der Erdšlpreis jedoch von 140 auf unter 70 Dollar pro Barrel und mit ihm implodierte auch der russische Immobiliensektor. Selbst grosse Firmen wie die Mirax-Group, die in Moskau mit dem ãFederation TowerÒ zurzeit das hšchste GebŠude Europas errichtet,  hat sŠmtliche Projekte, die sich noch nicht im Bau befinden, auf Eis gelegt. ãViele meiner Konkurrenten, die sich vor allem Ÿber Kredite finanziert haben, sind nicht mehr auf dem MarktÒ, erzŠhlt ein Schweizer  Bauunternehmer in Moskau.

 

Anstieg der KriminalitŠt befŸrchtet

 

Experten wie etwa der …konom Michail Delyagin befŸrchten nun, dass viele arbeitslose Gastarbeiter in die KriminalitŠt abdriften kšnnten. Allein in Moskau sind 1,6 Millionen Fremdarbeiter legal registriert, die Anzahl illegaler Immigranten in der russischen Hauptstadt dŸrfte jedoch mehr als doppelt so hoch sein. Eine RŸckkehr in die armen HeimatlŠnder bietet ihnen wenig Perspektiven: In  Tadschikistan etwa entsprechen die †berweisungen der Gastarbeiter an ihre Familien 36 Prozent des Bruttoinlandprodukts.

 

Die Wirtschaftskrise kšnnte daher den sozialen Frieden in Russland, wo seit Anfang Jahr bei rassistischen †bergriffen mindestens 80 Immigranten von Ultranationalisten ermordet wurden, auf eine harte Probe stellen. Denn auch in Branchen, in denen mehrheitlich Russen arbeiten, werden bereits krŠftig ArbeitsplŠtze gekŸrzt: bei der Investment-Gruppe ãRenaissance CapitalÒ zum Beispiel um 30 Prozent. Am vergangenen Wochenende organisierte die kremltreue Jugendorganisation ãMolodaja GwardijaÒ in mehreren StŠdten Protestkundgebungen unter der Parole ãUnser Geld Ð unseren LeutenÒ. Aslanbek und seinesgleichen droht ein frostiger Winter Ð vor allem in sozialer Hinsicht.