CHRISTIAN WEISFLOG

Zu Besuch bei Putins Jüngern

Steigen Sie ein, ich nehme Sie mit auf eine Reise. Eine Reise ins Sommerlager der kremltreuen Jugendorganisation Naschi (die Unsrigen). Wegen ihrer inszenierten Massenauftritte und ihrer Treue zu Wladimir Putin werden sie in Anlehnung an Hitlers Drittes Reich gerne als Putin-Jugend bezeichnet. Mit Faschismus hat das Ganze jedoch wenig zu tun. Es ist vielmehr eine zerbrechliche Mischung aus Sowjetnostalgie, russisch-orthodoxer Moral und Putin-Glamour.



DIE NASCHI
mögen keine Journalisten. Nur an zwei Tagen öffnen sich die Tore des zweiwöchigen Sommerlagers für uns, und wir müssen dafür auch noch eine kleine Tortur in Kauf nehmen: eine sechsstündige Nachtfahrt in einem unbequemen Autobus. Morgens um halb eins geht es los von Moskau aus 350 Kilometer Richtung Nordwest zum Seligersee.

Schliesslich hält der Bus vor einer malerischen kleinen Halbinsel mit sandigen Stränden und bewaldeten Anhöhen. Hier schlagen die Naschi seit ihrer Gründung vor vier Jahren jeweils im Sommer ihre Zelte auf – heuer sind es über 3000. Freizeitangebot und Karrierechancen locken vor allem Teenager aus der Provinz.

Auf den ersten Blick erinnert die Szenerie an ein Pfadfinderlager, doch der Eindruck täuscht. Obowohl Putin mittlerweile vom Präsidenten zum Premierminister abgestiegen ist, bleibt er für die Naschi die Nummer eins. Sein Porträt prangt auf grossen Plakaten zwischen den Bäumen. Am Strand steht ein begehbares Modell des Weissen Hauses – Putins Regierungssitz. Davor stemmen kräftige Burschen unter freiem Himmel Gewichte – ein bisschen Copacabana im Naschi-Camp.



FLACHBILDSCHIRME
hängen überall an den Bäumen – das eigene Fernsehen berichtet vom Lagerleben. Dessen grösste Attraktion ist ein kleines Schwein, das in einer bescheidenen Bretterbude am See haust. Auf dieser weht die estnische Fahne und daneben steht auf einer Holztafel: «Rufname: Ilves». Gemeint ist der estnische Präsident Toomas Hendrik Ilves. Seit seine Regierung es gewagt hat, ein sowjetisches Weltkriegsdenkmal aus dem Zentrum der estnischen Hauptstadt Tallinn in die Peripherie zu verbannen, verteufeln die Naschi die baltische Republik als «faschistisches Regime».

Etwas weiter qualmt es bedrohlich aus einer Falltüre im Boden. «Hölle» steht auf einem Schild geschrieben. Dahinter führt eine Treppe in den Himmel. Auf ihren Stufen stehen Gebote wie: «Ich bin dein Gott», «Begehe keinen Ehebruch» oder «Lüge nicht». Eine Installation der russisch-orthodoxen Naschi-Abteilung. Später am Nachmittag tanzen junge Aktivisten mit Federschmuck und Kriegsbemalung durch das Lager: «Wir wollen den bösen Geist aus Ilves’ Seele vertreiben», rufen sie. Heidnische Riten, Sowjetpathos und christliche Moral? Sie ist wirklich sehr weit, die Naschi-Seele.

Christian Weisflog ist MZ-Korrespondent in Moskau.