CHRISTIAN WEISFLOG

Josef Stalin, Superstar?



Kaum ist die Personalrochade im Kreml vollzogen, gibt es im demokratiefeindlichen Russland bereits wieder Wahlen. Die Bürger sollen in einem TV-Casting bis Ende Jahr den ultimativen Helden der russischen Geschichte erküren. Doch bei aller Liebe zur Demokratie, den Demokraten muss es bereits grauen. Momentaner Spitzenreiter ist mit rund 200 000 Stimmen einer der grausamsten Diktatoren der Weltgeschichte: Josef Wissarionowitsch Dschugaschwili – besser bekannt unter seinem «Künstlernamen» Stalin.



DAS FERNSEHFORMAT erfunden haben die Briten. Aber schon jetzt scheint klar, dass auch dieses importierte Demokratieexperiment in einem Desaster enden wird. Im Unterschied zu sonst wünschte ich mir nun aber, dass diese Wahl tatsächlich gefälscht sein möge.

Dies ist sie aber nur bedingt. «Rossija» – Russlands zweiter Staatskanal – hatte 600 Persönlichkeiten ausgewählt. Seither geben die Bürger auf der Website www.nameofrussia.ru ihre Stimme für ihre Helden ab. Zurzeit sind noch 50 historische Grössen im Rennen, ab September werden es noch 12 sein. Dann beginnt der richtige Wahlkampf, mit Talkshows und Wahlclips der einzelnen Kandidaten.

Das demokratische Grundprinzip «eine Person – eine Stimme» wird dabei allerdings nicht eingehalten. Auf der Website kann man für seinen Kandidaten unbegrenzt klicken. Doch das ist offenbar Teil des Spiels. Die Organisatoren möchten, dass sich die Bürger hinter ihre Kandidaten scharen, für sie Internet-Attacken starten und in der heissen Phase gar Parteien gründen.

Zurzeit haben Stalin und Lenin die Nase vorn. Der Vater der kommunistischen Revolution liegt mit 120 000 Stimmen auf Platz drei. Mit Iwan dem Schrecklichen ist ein weiterer Tyrann in den Top 12 vertreten. Ein bisschen Licht in die finstere Gesellschaft bringen einzig der aufmüpfige Sowjetbarde Wladimir Wyssozki und der exzentrische Dorfdichter Sergei Jessenin.



DER AM PROJEKT beteiligte Historiker Wladimir Lawrow hat kein Problem mit Stalins Spitzenposition: «Man darf die Wahl deshalb nicht fälschen, sondern muss den Leuten die Wahrheit über Stalin erzählen», sagt er. Die Kurzbiografie des «Generalissimus» auf der Website hat jedoch wenig mit der Wahrheit zu tun: «Bei allen Mängeln der stalinschen Modernisierung, die Aufgaben, die sich dem Land stellten, wurden gelöst», heisst es da. Die «Mängel», das sind in Wahrheit Millionen unschuldiger Opfer, hinweggerafft von einem Unrechtsstaat. Diese einfache Wahrheit wird im heutigen Russland nicht ungeschminkt ausgesprochen und deshalb dürften auch künftig die Tyrannen die Helden bleiben.

Christian Weisflog ist MZ-Korrespondent in Moskau.